Das Wort „Neugier“ war eigentlich nie besonders positiv besetzt. Dabei ist eine gesunde Portion davon gerade in der Marketing-Welt Grundvoraussetzung, um diverse Probleme zu verstehen und Fortschritt zu schaffen. Produktive Neugier gerade in unserer automatisierten Welt gefährdeter denn je. Und eben deshalb muss Neugier wieder einen Platz in unseren Prozessen finden – denn die Alternative ist Copy-Paste.
Nein, es ist definitiv keine gute Assoziation, die vielen von uns seit Kindesbeinen mit dem Wort Neugier eingeimpft wurde. Wer googelt, stößt auf eine Definition, die tatsächlich sehr wenig schmeichelhaft ist. Neugier ist danach…
„das Verlangen, Wunsch, etwas [Neues] zu erfahren, in Angelegenheiten, Bereiche einzudringen, die besonders andere Menschen und deren Privatleben o. Ä. betreffen…“
Neugierige Charaktere traten in unseren Geschichten früher immer wieder auf. Frühe Kindererzählungen, wie der Struwwelpeter sind gespickt mit teil brachialen Warnungen von Kindern, die zu neugierig sind und dann meistens auch noch deswegen scheitern. So zum Beispiel bei Paulinchen, die „allein zu Haus'“ war und der dann (wie so oft im Struwwelpeter) Schlimmes widerfuhr: sie setzte sich in Flammen.
Gleich, wo wir hinschauen, wurde vor allem Kindern Neugier als Grenzübertretung vermittelt: Neugierige Charaktere waren zwar meist keine Superschurken. Dafür wurden sie meist als übergriffige, unsympathische Typen gezeichnet, die ihre Nasen zu tief in die Themen andere Leute steckten.
Natürlich sind solche Metaphern immer ein Spiegel der Zeit, in der sie geschrieben wurden. Gerade Kinderliteratur im 19. Jahrhundert spiegelte auch das Erziehungsbild der autokratischen deutschen Gesellschaft damals wider. Neugierigen Kindern sollten schon früh Regeln mit an die Hand gegeben werden, die auch den „Untertanen“ später gut zupass kam. Wer nicht zu viele Fragen stellte und nicht zu viel wusste, konnte auch nicht zu viel Unheil anrichten.
Einfach, oder?
Superkraft Neugier?
Vielleicht sind es aber auch vermeintlich kleine Unterschiede, die die deutsche „Neugier“ und die englische „Curiosity“ voneinander trennen. Denn letztere hört sich nicht nur schöner an, weil es ohne den Wortteil „Gier“ gleich viel weniger übergriffig klingt. Nein, diese Neugier entstammt einer ganz anderen Welt – eine, in der Ideen entstehen und Gedanken gesponnen werden dürfen. Die produktive Neugier kann Ideen destillieren und in umsetzbare, testbare Lösungen verwandeln helfen.
Keine Frage: Eigentlich ist eine gesunde Neugier die Basis-Voraussetzung für Innovation und sie öffnet die Tür für effektivere Wege vorwärts. Gerade im Marketing geht es gar nicht ohne. Kaum vorstellbar, dass man sich ohne diese Schlüsseleigenschaft in die vielfältigen Fragestellungen im Marketing einarbeiten kann. Briefings, Branding, Kreativ-Sprungbretter: Ohne produktive Neugier undenkbar. Und das findet langsam Anerkennung. Denn Richtig eingesetzt wird Neugier für Kollegen, Teams und die Organisation mittlerweile sogar als Führungssuperkraft beschrieben, die sich gerade dann entwickeln kann, wenn sie auf eine unterstützende Unternehmenskultur trifft.
Aber gibt es so eine Kultur heute noch?
„Die einzige Möglichkeit, möglichst breit und möglichst viel zu wissen, ist eine intrinsische Neugier.“
– Fabian Roser in #WhatsNextAgencies
Zweifel sind tatsächlich angebracht. Die Kreativwirtschaft ist mehr denn je auf Effizienz fokussiert. Die Zeichen der Zeit stehen auf Automatisierung. Immer mehr Exploration muss extrem zielgerichtet stattfinden. Echtes Nachforschen, was einen Sachverhalt ausmacht, wird zunehmend durch schnelle Copy-Paste Research ersetzt, die Briefings im Handumdrehen in Jira Tickets verwandeln. Diesen Stand der Kreativwirtschaft beschreibt der UX-Designer Michal Malewicz in seinem Artikel „Design has lost its seat at the table„:
„The industry has matured. Most design solutions were discovered and are now simply duplicated. (…) We have extreme consistency at a cost of less insightful products being built. There is no time and no money to do things the old-fashioned way.“
Diesen Prozess der Automatisierung erleben wir in allen traditionell kreativen Bereichen derzeit. Kreativität muss immer mehr in Formate und Systeme passen, die der zunehmenden Technisierung und Software-Abhängigkeit in allen Bereichen geschuldet ist. Legt das der Kreativität Grenzen auf oder beflügelt es sie? Und welche Rolle spielt Neugierde dabei? Denn vordergründig scheint die Suche nach einer anderen Lösung, die Exploration dessen, was noch nicht gemacht wurde, der Technisierung unserer Zeit antithetisch gegenüber zu stehen. Wer „spinnt“ und über völlig andere Ansätze nachdenkt, steht dem effizienten Zeitgeist erstmal entgegen. Scheinbar.
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Neun Eigenschaften produktiver Neugier
Ohne Zweifel gibt uns eine automatisierte Welt neue Auflagen mit. Auch unsere Suche nach der besseren Lösung muss sich verändern. Neugierde muss produktiv sein, um eine Rolle in effizienten Businesses spielen zu können. Zum Glück entscheiden wir nicht selbst, ob wir neugierig sind oder nicht. Diese Eigenschaft ist uns in die Wiege gelegt. Und sie variiert in ihren Ausprägungen von Mensch zu Mensch.
Die Neuropsychologin Anne-Laure Le Cunff identifiziert neun Eigenschaften, die typisch für besonders produktiv neugierige Menschen sind. Le Cunffs Thesen machen schnell offensichtlich, welchen Wert produktiv neugierige Menschen für Organisationen haben: Sie ziehen Verbindungsfäden zwischen Konzepten, die niemand sonst ziehen kann.
Was produktiv neugierige Menschen anders machen:
- Sie suchen Übergänge und Zwischenräume. Neugier wird vor allem in der Sphäre zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Wissen und Nichtwissen produktiv. Wo das Mögliche das Gewisse wird, können neugierige Menschen neue Lösungen entwickeln und Innovation vorwärts treiben.
- Sie spinnen Verbindungen zwischen Ideen. Netzwerke ersetzen in ihrem Kopf lineares Denken. Unerwartete Verbindungen zwischen zwei Konzepten werden willkommen geheißen und weiter entwickelt, um – metaphorisch gesprochen – aus 1+1 mehr als die Summe seiner Teile zu machen.
- Sie stellen generative Fragen. Nicht nur Fakten interessieren sie sondern zugrundeliegende Gefühle, Motivationen und der Kontext eines Zustands. Inhalte werden offen, mehrdimensional und empathisch hinterfragt, weil ein Problem aus verschiedensten Blickwinkeln verstanden werden will.
- Sie explorieren (manchmal zu viel). Natürlich neugierige Menschen neigen zu vielen Interessen. Das kann im Idealfall inspirierend und explorativ wirken (und Zusammenhänge schaffen, die kein anderer herstellt), aber es trägt eben auch den Keim des Verzettelns in sich.
- Sie lernen kontinuierlich und öffentlich. Wer sich als lebenslang Lernende/r begreift, sieht in „Nichtwissen“ kein Problem sondern nur die nächste Aufgabe. Neugierige sehen sich selten als echte Experte:innen sondern vielmehr als Menschen, die vielleicht einen guten Zwischenstand erreicht, aber noch viel zu lernen haben. Erworbenes Wissen wird gerne geteilt.
- Sie fordern das Selbstverständliche heraus. Der Status Quo wird von natürlich neugierigen Menschen als eine testbare Arbeitshypothese angesehen. Alles könnte so sein, aber es könnte ja auch anders gehen. In dieser Grundannahme der Welt liegt die Idee dass man den Status Quo der Welt selbstverständlich hinterfragen kann und muss.
- Sie hören mit Empathie zu. Wo neugierige Menschen die Welt erfahren wollen, gehört Empathie natürlich zur Informationsaufnahme. Komplexe, vielschichtige Kontexte erfahren sie deshalb nur, wenn sie die nötige Sensibilität in der Kommunikation aufbringen.
- Sie können schwierige Erfahrungen nachvollziehen. Auch vermeintlich schlechte Erfahrungen sind für neugierige Menschen eine nützliche Informationsquelle. Diese Kontexte werden von Neugierigen selten ausgeklammert sondern oft empathisch hinterfragt und reflektiert. Probleme gehören zum Leben dazu und werden so akzeptiert.
- Sie heißen Unvorhergesehenes willkommen. Das Chaos zu surfen, ist für Neugierige normaler Bestandteil ihres Daseins, denn ständige Veränderung und Unsicherheit wird von ihnen als normaler Zustand der Welt begriffen. Chaotische Zeiten sind gut für diese Menschen, weil sie hier besonders viel lernen und aus Möglichkeiten Lösungen schaffen.
Hat Neugier noch eine Rolle in einer automatisierten Welt?
Hier bei superspring glauben wir fest daran, dass produktive Neugier mehr denn je eine Rolle spielt. Gleich, ob Sie an einem neuen Branding oder einer einer Kommunikationsstrategie sitzen: Ihr Interesse am nächsten Schritt schafft die Bedingungen, unter denen Fortschritt gelingen kann.
Aber die Verbindung aus Neugier und kreativer Umsetzung hat sich eben auch neu sortiert. Es gibt ein neues produktives Zusammenspiel zwischen „intellektuellem Spinnen“ und zielgerichteter Exekution. Dieser Prozess muss von der Kreativwirtschaft verstanden und auch praktisch in Prozessen gedacht werden. Die gute Nachricht: Business Entscheider:innen dürfen kreativer sein denn je.
Kreative waren jahrelang die Monopolist:innen der Neugier. Sie müssen ihre Schaffenskraft zunehmend gezielt ausrichten. Arbeiten Sie an übergeordneten, kreativen Meta-Konzepten oder bestücken Sie vor allem Inhalte im Rahmen von Systemen? Die Skills von Menschen, die Grenzen niederreißen und Welten neu denken sind andere als die, die täglich Marketing und Kommunikation realisieren.
Insofern spielt Neugier in auch eine unterschiedliche Rolle, je nachdem, ob man sich eher als Ideenmacher:in oder als Kreativ-Produzent:in versteht. Wer jeden Tag die Welt neu erfinden will, braucht andere Inspirationen als die, die den letzten Stand an Möglichkeiten in sozialen Medien innovieren wollen. Und ja: das ist eben oft auch eine Frage der eigenen Biografie in einer sich rasant verändernden Kreativwirtschaft.
Business-Entscheider:innen (die Kreative sein können aber nicht müssen) erleben unserer Meinung nach gerade eine kreative Renaissance. Über Jahre war die Verbindung aus Neugier und kreativer Schaffenskraft „den Kreativen“ vorbehalten. Heute wird zunehmend der Prozess zur eigentlichen kreativen Hauptleistung. Denn wer eine Kaskade an Maßnahmen, KPIs, Stakeholdern, Prozessen, Botschaften und Technologien in ein Briefing synchronisieren kann, darf sich schon fragen, ob das nicht bereits ein sehr kreativer Prozess ist.
In einer Welt kreativ anwendbarer Technologien, der Content-Strategien und 24/7-Innovation wird das Denken komplexer, orchestrierter Marketingmaßnahmen zur kreativen Eigenleistung – in Echtzeit. Für Marketing-Entscheider:innen und ihre Teams ist das durchaus oft eine Herausforderung. Denn natürlich ist die Vielzahl an Möglichkeiten heute überwältigend. Niemand kann alles können und wissen. Es kommt vielmehr darauf an, seinen eigenen Prozessen und auch seinem eigenen Wissensstand den Support zu verschaffen, der aus Unklarheit Ergebnisse schafft.
Ist damit die Fähigkeit nach und die Anforderung an kreatives Arbeiten neu sortiert? Sind Entscheider:innen die neuen Kreativen? Nicht zwingend. Aber wir glauben, dass Kreativität strukturierter und gerichteter wirkt als früher. Es gibt einen breiteren und nuancierteren Kreativitätsbegriff. Und das gilt eben auch für die Rolle von Neugier. Frei nach dem – auch von uns genutzten strategischen Prozessmodell des Double Diamond – gibt es Zeiten zum Spinnen und Explorieren. Und es gibt Zeiten, in denen wir Ideen verdichten und zum Ziel tragen müssen. Wesentlich ist nur eines: Man muss wissen, wann was gefragt ist im Prozess.
Wie wir Neugier wieder nützlich machen
Es gibt einen Grund, warum wir als Gründerteam von superspring seit Jahrzehnten in Werbeagenturen, Unternehmensberatungen, Startups und nun unserer eigenen Beratung unterwegs sind: Wir sind neugierige Menschen. Und wir verbringen gerne Zeit mit anderen neugierigen Menschen. Und wir glauben, dass die meisten Menschen, die in dieser Branche starten, dieses Streben nach dem, was da noch sein könnte, in sich tragen.
Tatsächlich glauben wir, dass inhärente Neugier einer der vielen Gründe ist, warum die Marketing-Bubble immer noch so interessant ist: Es braucht diese Lust am Explorieren und Verstehen immer neuer Unternehmen, Branchen und auch Menschen, die hier ausgeprägter ist als irgendwo sonst. Es braucht in der Kommunikationswirtschaft Menschen, die nach einer tieferen Wahrheit suchen. Gleich, ob sie diese in einem Content Audit oder einer Marketing-Analyse zu finden glaubt.
superspring kanalisiert Neugier für produktivere Prozesse.
superspring hilft Neugier zu kanalisieren und als produktive Superkraft wieder zu einem Tools für Organisationen und Menschen zu machen. Das gilt für uns selbst wie für die Teams mit denen wir zusammenarbeiten. Und das nehmen wir vor allem für die Prozesse in Anspruch, die wir schaffen. Vier Pfeiler unserer eigenen Neugier stehen für uns dabei konzeptionell im Mittelpunkt unserer Arbeit:
- superspring praktiziert radikale Kollaboration mit Kund:innen und Partnern.
Die Formel ist simpel: Unsere Kund:innen sind die Expert:innen in ihrem Geschäft. Wir stellen Fragen, strukturieren und inspirieren. Unser Rezept heißt deshalb radikale Kollaboration. Wir binden Kund:innen und Partner von Anfang an in einen kollaborativen Prozess ein, um die produktivsten Elemente sinnvoll und kreativ miteinander zu verzahnen: Expertise, Inspiration und der Blick von außen.
- superspring kanalisiert Neugier in Marketing Innovationsprozessen
Der Druck fortwährender Innovation treibt uns alle. Dabei geht eben nicht nur um schöne Arbeitshypothesen für eine bessere Welt sondern um konkrete, umsetzbare Innovationen. Für Kund:innen realisieren wir deshalb Innovationszirkel, die Neugier kanalisieren und in Projekte überführen. Ziel: Strukturierte Inspiration in das nächste Produkt, die nächste Kampagnenidee, den nächsten Service zu überführen.
- superspring vernetzt Akteure, die sonst nicht kooperieren würden. Jeder Mensch, der produktiv in einen Prozess eingebunden wird, verändert eine Gleichung und damit das Ergebnis. Als Strategie- und Orchestrierungspartner bringen wir häufig Partner an einen Tisch, die sonst eher selten kooperieren würden. SEO meets Brand-Design? CRM trifft auf Media? Wenn in einem Prozess eine Kooperation denkbar ist, versuchen wir, sie zu explorieren.
- superspring macht Wissen siloübergreifend nutzbar. Last but not least – auch nach vielen, vielen Kund:innen lernen wir mit jedem Projekt eine neue Branche kennen. Marketing-Silos bilden sich dabei automatisch meist kurzfristig aus Effizienzgründen. Sprengen kann man sie, indem man Konventionen aus einer Welt in die nächste überträgt. Indem wir Branchen voneinander lernen lassen und Best Cases übergreifend nutzbar machen, durchbrechen wir den Zyklus, ständig neue Silos zu schaffen.
Wer die Fragestellung, wie man Neugier produktiv gestalten kann, auch so spannend findet. Unter anderem dazu haben wir kürzlich dem #WhatsNextAgencies Podcast von Kim Notz Rede und Antwort gestanden. Nummer 106, mit den superspring Co-Gründern Gerald Hensel und Fabian Roser dreht sich genau darum: Was bringt uns Neugierde? Und warum ist es manchmal ganz gut, etwas naiv zu sein?
🎧 Anhören geht kann man die Folge hier: Zur Folge 106.
What’s Next Agencies ist der Podcast über die Zukunft der Agenturbranche. KNSK CEO Kim Notz befragt dabei alle paar Wochen Entscheider:innen rund um ihre Geschäftsmodelle und ihren Blick auf die Zukunft der Agenturbranche.
Bildnachweis
- Bilder von Midjourney
- Vorschaubilder von KNSK / WhatsNextAgencies